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Ent-wicklung

Entwickle dich, ent-wickle dich, wickle dich aus –
entwirre dich und schäle dich, Schale für Schale für Schale, aus deiner alten Haut,
und ertrage den Anblick des offenen Fleisches vor dem dir so graut.
Nackt, kahl und schutzlos und so empfindlich, dass selbst die sanfteste Berührung dich schmerzhaft
durchzuckt,
oft wirst du dir wünschen, du hättest das nicht getan, du hättest da lieber nicht so genau
hingeguckt.
War die alte Haut nicht auch eine sichere Hülle, die vor Verletzungen schützt?
Hat sie dir als Grenze zwischen dir und dem außen nicht all die Jahre auch so oft genützt?
Und gleichwohl hat sie treu deine eigenen Schwächen und Ängste verborgen, nicht nur vor
den anderen, nein auch vor dir selbst,
und damit so lange wie möglich verhindert, dass du dich deinem inneren Schatten stellst.

Und doch rufe ich dich: komm nur, komm und mach dich auf!
Stimmt, es wird kein Spaziergang werden und nein, auch kein flotter Dauerlauf.
Eher ein langer, beschwerlicher Fußmarsch durch die Sümpfe der Traurigkeit,
eher ein One-Way-Ticket nach No-Mans-Land zur Regenzeit,
eher wie Elefantenfriedhof, wie Schicksalsberg, wie Kammer des Schrecken,
nur ohne Sam der dich trägt und ohne Tarnumhang, um dich zu verstecken.
Und doch rufe ich dich: komm nur, komm, denn kein Tod wäre schlimmer,
als Stillstand und lähmendes Eingewickelt-Sein für immer.
Also rufe ich: komm nur, komm und zöger das Unvermeidbare nicht länger hinaus,
entwickle dich, ent-wickle dich, entwirre dich und wickle dich aus.

Du willst wissen, wieso ich es wage, dir so einen Rat zu geben?
Doch das lässt sich mit Worten kaum sagen, das muss man am eigenen Leibe erleben.
Ich kann mich kaum rühmen, damals selbst freiwillig losgezogen zu sein,
mich schon beim ersten Ruf auf dem Weg gemacht zu haben – sicher nicht, nein.
Hab jahrelang lieber Pflaster auf eitrige Wunden geklebt, statt den rostigen Nagel
herauszureißen,
hab Märchen erzählt und Lügen wie Schmerztabletten geschluckt, um mich selbst zu
bescheißen,
und lange gebraucht um zu merken, dass es nicht mein Selbstbild ist, das mir aus dem
Spiegel entgegensieht,
und dass man am Ende immer eingeholt wird, wenn man vor sich selber flieht.

Und plötzlich steh ich im Wald und mir gegenüber steh – ich,
ausgemergelt sehe ich aus, verkümmert, vertrocknet, ja fürchterlich.
Eingewickelt in Dornengestrüpp, fang ich an mich langsam zu entwirren, bis die alte Haut mir
in Fetzen vom Leibe hängt,
vor mir liegt nichts als der sichere Tod – doch vielleicht wird mir dahinter ein neues Leben
geschenkt.
Aber erstmal geht der Weg steil bergab,
man gibt man mir Hacke und Schaufel: da, grabe dir dein Grab,
und dann leg dich rein…

Schon bald wird mir klar, ich liege hier nicht allein.
Rechts von mir liegt Angst, rückt mir auf die Pelle und macht mich schier wahnsinnig,
von links schmiegt sich Traurigkeit an, lockt mich in ihr zu versinken, umarmt mich innig,
auf mir liegt lähmend ungelebte Wut und droht mich zu erdrücken,
von unten fallen Zweifel gnadenlos mir in den Rücken.

Wie ich da wieder raus gekommen bin?
Nein, das bin ich nicht.
Und was mir dabei geholfen hat?
Ich habe sie alle eingeladen, ich habe mich selbst eingeladen, sie alle zu sein.

Dort auf dem Boden habe ich gelegen und so bitterlich geweint, dass sieben Frauen meinen Schmerz nicht halten konnten. Und mit jeder von zehntausend Tränen, floss ein Stückchen Liebe, für das Kind in mir, in mich zurück.
In der verfallenen Hütte habe ich gestanden und mit aller Kraft das Mobiliar verdroschen, hab mir dabei die Seele aus dem Leib geschrien.
Und mit jeder Verfluchung die ich wütend von mir gab, hab ich dem Opfer und dem Täter und dem Retter in mir selbst ein Stückchen mehr verziehen.
Draußen im Wald hab ich gesessen, des nachts im Dunkeln, ganz alleine ich und meine Angst. Ich habe ihr so lange nachgegeben,
bis ich entscheiden musste zwischen Panik oder Liebe, um zu überleben.
In eine dunkle Höhle habe ich mich sperren lassen, um ungestört mich meinen Zweifeln auszusetzen. Und dort, in Zwischenwelten die ich nicht erklären kann, bin gefallen – aus mir heraus, in mich hinein, ins Vertrauen – ins Sein.

Ich bin nicht, wer ich vorher einmal war. Ich habe nicht vor die zu bleiben, die ich heute bin. Ich glaube die Geschichte nicht, die ich über mich selbst erzähle. Ich weiß nichts und nichts will ich dir lehren, keinen Rat dir geben. Und doch sage ich voll Überzeugung: Komm, mach dich auf den Weg, bleib niemals stehen. Stehenbleiben ist Tod- und gleichwohl, wer geht, wird sterben. Das Sterben selbst ist das Leben – also lebe, also stirb.

Ich entwickle mich, ent-wickle mich, wickle mich aus –
entwirre mich und schäle mich, Schale für Schale für Schale, aus meiner alten Haut.

Und sollte ich je in den Spiegel schauen und glauben, dass mein wahres, endgültiges Gesicht mir entgegen schaut –

dann, dass ist meine Bitte an euch, fangt an sie mir in Streifen vom Leibe zu ziehen, meine zu eng gewordene Haut.

Elisa Sievers